Thomas Lehnerers oft nur handgroße Figuren stehen in ursächlichem Zusammenhang mit den elementaren Fragen menschlicher Existenz; sie bringen traditionelle plastische Gestaltungsweisen mit konzeptuellen Momenten zusammen.
Der Mensch im ihn umgebenden Raum, Interaktionen, das, was ihn in seinem Wesen prägt, fließen beim Entstehen in die Figuren ein und bestimmen sie in ihrem Ausdruck.
Thomas Lehnerer hat sowohl durch seine künstlerischen wie auch kunsttheoretische Ausbildung und Beschäftigung innerhalb der zeitgenössischen Kunst einen besonderen Status. Hatte seine Arbeit Ende der 70er und in den 80er Jahren noch eine deutlichere Orientierung im Bereich der künstlerischen Installation zu Themenkomplexen wie menschliches Glück, Religion etc. - der Arbeit von J. Beuys gedanklich verwandt - bestimmt, wurden ab Ende der 80er Jahre Fragen des Kunstbegriffes, die auf ihr Wesen reduzierte Einzelfigur wichtig. Vor diesem Hintergrund entstehen seine charakteristischen Zeichnungen und Plastiken, an denen er bis zu seinem Tod 1995 arbeitet.
Seine oft nur handgroßen Figuren werden zu Einzelfiguren und stehen in ursächlichem Zusammenhang mit den elementaren Fragen menschlicher Existenz, bringen traditionelle plastische Gestaltungsweisen mit konzeptuellen Momenten zusammen. Der Mensch im ihn umgebenden Raum, Interaktionen, das, was ihn in seinem Wesen prägt, fließen beim Entstehen in die Figuren ein und bestimmen sie in ihrem Ausdruck.
Sie verweisen auf das, was in einem kulturellen Gefüge bereits vorhanden ist: "Läßt man sich als Betrachter auf diese Vorgaben ein, wird man mit seinen Sinnen und dem zugleich aktivierten Verstand zum Vollender eines offenen Kunstwerks". (P. Friese)
Diese Figuren setzen etwas frei, was sich außerhalb des faktisch Vorhandenen bewegt, Erinnerungen und Assoziationen beim Betrachter erweckt. Lehnerer geht davon aus, daß "das elementare nicht in abstrakten Formen oder reinen Farben bestehen kann, sondern vor allem im Bereich des Menschlichen gesucht werden muß, in Physiognomie, Haltung und Ausdruck". Es geht ihm um die Frage des Bildes, um seine kulturgeschichtliche Funktion, seine Möglichkeit und Fähigkeit, etwas auszudrücken, zu repräsentieren. Es geht aber auch zugleich um die Grenzen dieses Verfahrens, um die Unmöglichkeit und das Scheitern eines Bildes am Anspruch, das zu sein oder zu repräsentieren, was es abbildet.
Die in seinen letzten Schaffensjahren entstandenen Skulpturen sind aus massiver Bronze und durch den Gußprozeß zugleich Unikate: zunächst aus weichem Wachs geknetet werden sie dann im Verfahren der verlorenen Form gegossen.
Thomas Lehnerer - Unter Freunden *
von Thomas Deecke
Lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie ich Thomas Lehnerer kennen lernte und Sie werden vielleicht verstehen, dass der Zugang zu seiner Kunst nicht ganz einfach ist oder doch scheint. Irgendjemand - ich glaube es war Stephan Huber, den ich schon früh im Westfälischen Kunstverein ausgestellt hatte - muss ihm wohl erzählt haben, dass ich damals - als ich ab 1984 als freiberuflicher Kunsthistoriker - mal wieder in Berlin arbeitete und vielleicht Zeit und Lust hätte, seine gerade erst erscheinen Dissertation „Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers" zu besprechen. Ich begann also seine theoretische Arbeit zu lesen und stieß schon sehr bald an meine Grenzen. Thomas Lehnerer hatte Theologie, Philosophie, Kunstgeschichte und Pädagogik studiert. Ich war mit meiner klassischen Zusammenstellung von Kunstgeschichte, klassischer Archäologie und Neueren Geschichte - so die rasche Selbsterkenntnis - wohl nicht der Richtige, seine Schrift beurteilen zu können. Ich schrieb ihm das, zugleich aber schrieb ich wohl auch von der Faszination, die seine Kunst, seine Skulpturen und seine Installationen bei mir ausgelöst hatten, jene Werke, die einen Weg suchten im weiten Grenzbereich zwischen dem schöpferischen Prozess, der Rezeption durch den Betrachter und der Fragestellung des Künstlers, was ihn eigentlich zu Herstellung von Werken, die man dann Kunst nennen könne, bewege.
Thomas Lehnerer war ein denkender Künstler; einer der sich auf dem schmalen Grat zwischen intuitiver bildnerischer Erfindung und intellektuelle Analyse eben dieses Tuns bewegte, nicht ohne Skrupel, ob sich diese beiden Seiten vereinigen lassen würden. Ein Künstler, dessen Neugier auf eine andere Existenz als der eines Künstlers als Beruf gerichtet war, der deshalb gleichzeitig neben einer künstlerischen Beschäftigung das Studium der Theologie und Philosophie betrieb und es mit einem Doktorat abschloss und darüber hinaus auch noch 1992 mit einer Habilitation in Ästhetik „Methodik der Kunst“ krönte: eine pictor doctus also, ein Künstler, dem es wichtig war, von vorne herein auch andere Seiten der Künstlerexistenz kennen zu lernen, der sich selbst in die Lage versetzen wollte, die bilderische Intuition durch die intellektuelle Analyse zu überprüfen bzw. gelegentlich auch zu konterkarieren. Lehnerer war sich dabei der Gefahren einer solchen Gratwanderung einer möglichen Intellektualisierung des Intuitiven durchaus bewusst; er verheimlichte seine Skrupel nicht, sondern er legte sie offen dar in seinen Kunstwerken, den frühen Installationen, den Zeichnungen und Gouachen und den zahlreichen Skulpturen.
In den Arbeiten, die hier vor uns stehen, einer Gruppe von Vitrinen, gefüllt mit Skulpturen und Relikten, wird das Prinzip seines bildnerischen Denkens deutlich: Gefundenes und selbst Gestaltetes, Objects trouvets und selbst Geformtes stehen nebeneinander. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt der Betrachter, dass es sich bei einigen der Stücke nicht um Skulpturen des Künstlers selber handeln kann, sondern um Gesammeltes und Gefundenes aus den verschiedensten Kultur- und Lebensbereichen: Ethnologische Objekte verschiedenster Kulturen und Zeiten, banale Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, Souvenirpüppchen und Figürchen z.T. banalster Herkunft gemeinsam präsentiert mit den Skulpturen aus seiner Hand oder genauer muss man sagen: Aus einen Händen. Und das ist wörtlicher zu nehmen, als es zuerst einmal klingt: Seine Skulpturen entstanden in einem Prozess des Knetens der eng beieinander arbeitenden Hände, die die Skulpturen aus dem weichen Wachs (für die späteren Bronzegüsse der verlorenen Form - Unikate also) oder seltener auch aus Ton formten. Die dadurch entstehenden meist schmalen und aufrecht stehenden Gestalten, die gereckten Gesichter mit den oft aus tiefen Augenhöhlen aufwärts gerichteten Blicken verleihen diesen Figurinen fast den Charakter von Idolen einer uns unbekannten Kultur oder lassen sie als Erinnerungs- oder Denkmale von Philosophen oder gar Propheten erscheinen. Verstärkt werden diese Assoziationen gelegentlich auch durch die Titelgebungen des Künstlers, der sich nicht scheut, sie z.B. allgemeiner als 'Der, der nachdenkt' und 'Der, der überlegt' zu bezeichnen, der aber auch Titel, wie 'Hiob' und 'Paulus' nicht scheute. Lehnerer verstärkt den Eindruck des Bedeutenden, des assoziativ Gerichteten in den Zusammenfügungen der Vitrinen noch durch die Beigaben der gefundenen Gegenstände und Figuren, die offensichtlich oder ein wenig versteckt aus ähnlichen oder verwandten Sinnzusammenhängen stammen oder auch nur zu stammen scheinen.
Diese Vitrinen haben dabei nicht einfach nur die museal übliche Funktion des Schutzes und der Aufbewahrung der einzelnen und meist ja auch kleinen Figuren verschiedener, wenn auch sicherlich miteinander mehr oder weniger verwandter Gegenstände der Kunst und des Kunstgewerbes, sondern sie sind selbst integrierender Teil des Kunstwerkes, ja der Inszenierung eines aus vielen vielleicht gar heterogenen Teilen zusammengesetzten Gesamtwerkes. Denn diese vom Künstler zusammengefügten Sammlungen ergeben das Bild eines Ganzen, der Gewünschten, des Erhofften, an dessen Verwirklichung Thomas Lehnerer bis zu seinem viel zu frühen Tod im März 1995 gearbeitet hat: Die Darstellung eines Zusammenhanges von einer transzendental denkbaren auf ein Göttliches gerichteten Vorstellung und der Hoffnung, dieses denkbar ordnend Prinzipielle bildnerisch fassen und darstellen zu können.
Thomas Lehnerer war jedoch viel zu intelligent, um sich nicht bewusst zu sein, dass dieses Vorstellung einer von dem Organisationsdrang bzw. Ordnungsdrang des Menschen freigestellten Religiosität, eine Utopie, ein unerfüllbarer Traum bleiben musste; ein Traum, an dem er nichts desto trotz sowohl in seinen Texten und in seinen Figuren gearbeitet hat. Wie weit er sich dabei sogar in die Gefahr begab, als Zyniker missverstanden zu werden, mag beispielsweise seine Figurationen aus getrocknetem Fleisch verdeutlichen, die er u.A. in einer der Vitrinen aber auf der documenta 9 auf dem Altar einer -allerdings säkularisierten - Kirche in Kassel ausgestellt hatte, oder der aus getrockneten Fleischstückchen zusammengefügten Gekreuzigte (oder sieht er vielleicht nur so aus?) in der Vitrine mit dem Titel: 'Die Religion gehört der Kirche nicht', die heute im Neuen Museum Weserburg Bremen steht. Peter Friese, der in Kassel seinerzeit eine Führung gemacht hatte und natürlich auf die religiöse Konnotation zum Abendmal („dies ist mein Fleisch", und „dies ist mein Blut" hingewiesen hatte, wurde danach von einer Hörerin gefragt, ob es sich denn wirklich um menschliches Fleisch handele. Die Frage war gar nicht so absurd und hätte Lehnerer wohl fasziniert, legt sie doch die offensichtliche Doppelbödigkeit von physischer Realität und Bildwirklichkeit offen, ganz im Gegensatz zu René Magritte, der sein Bild einer Pfeife eben mit dem aufklärerischen Text „Ceci n'est pas un pipe" versah und damit die Bildwirklichkeit von der Realität absetzte.
Lehnerer war sich dennoch des Scheiterns dieser anspruchsvollen, wenn nicht gar anmaßenden Idee wohl immer auch bewusst: Deshalb auch die Einschließung dieser Inszenierungen in den bewusst museal und nicht kirchlich genutzten Vitrinen. Das Museum (die Ausstellung) erschien ihm als einer der wenigen Orte, an dem es noch möglich sein könnte, dieses universalen Anspruchs einer Vereinigung des seit den Vernunftserfahrungen der Renaissance Unvereinbaren, wenn schon nicht habhaft, so doch für Augenblicke nahe zu kommen.
Der Künstler Lehnerer verstand sich also als ein den Blick verändernder Beobachter, als einer, der das Spiegelbild einer wiedervereinigten Welt des Geistes für Augenblicke seines Besserwissens in der Hand hält und der dennoch weiß, dass dies nur ein schöner Schein ist. So hat er beispielweise seine 'Stadt aus Gold' 1986 in einem Restraum der U-Bahn in München, also an wahrlich nicht heiligen Ort als Modell des 'himmlischen Jerusalems' verwirklicht, allerdings wieder mit den Mitteln der banalen Realität einer aus aufgestapelten Goldbarren imaginierten Stadtsilhouette, die an fernem und unzugänglichem und absichtsvoll schwach beleuchtetem Raum die unerreichbare Vision einer Jenseitsverheißung illusionierten. Der schöne Schein, der sich erst im Wissen auf höchst ‚frag-würdige’ Weise erfüllt oder wie es ein anderer Münchner. Karl Valentin unmissverständlich deutlich gesagt hat: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit". Machen Sie sich also dran!
* für Einführung der Ausstellung Thomas Lehnerer / Matthias Kohlmann - Unter Freunden, Galerie Seitz und Partner, Berlin 2. Mai 2008