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Die verschiedenen Formen haben zum Teil einen realen, einer Fotografie oder einer Zeitschrift entnommenen Hintergrund, der durch den Künstler auf die Bildfläche übertragen und verändert wird, so dass im Resultat der Ursprung nicht mehr erkennbar ist. Als Malgrund verwendet Uwe Esser nicht nur Leinwand, die auf speziell verdichtete Platten aufgezogen wird, sondern oftmals einfache Bodenbeläge, Fotografien, Holz, Papier oder Tapete. Die fließenden farbkräftigen Lineaturen mit teilweise transparent-luziden Flächen wie auch die in mehrfachen, dickeren Schichtungen glänzend überdeckte Strukturen werden zur wiedererkennbaren Bildsprache. Verschiedene Blickwinkel lassen den Betrachter die unterschiedlichsten Formungen, Figuren oder Szenen entdecken.
Die sich um die Ecken und Kanten von Räumen verkröpfenden Wandgestaltungen, bei denen es zum Teil so wirkt, als würden sie in den Raum hinein auf den Betrachter zu wuchern, werden meist aus auffälligen, zum Teil grell farbigen Teppichen auf die Wandfläche aufgebracht und ausgeschnitten. Die Installationen werden jeweils für den zu bespielenden Raum entwickelt.
(Pressetext zur Ausstellung "Loops & Scoops")
Die Eroberung des Raumes
Einige Gedanken zu den neuen Arbeiten von Uwe Esser:
So viel Dynamik und Verve auf Bildern ist selten. Der erste Eindruck von der Ausstellung „Black
Irish“ verdankt sich einem Spektakel an Formen, Farben und Flächen. Mit viel Schwung scheint
der Maler das quirlige Durch- und Übereinander auf die Leinwände geworfen zu haben. Die
Farben wirken im Vergleich zu früheren Arbeiten intensiver und hier und da treten sogar Figuren
aus der All-Over-Struktur hervor: etwa ein schlurfendes Schnabelwesen, lachende Gespenster,
ein stürzender Kittelträger und ein kämpfender Centurio. Rein abstrakt sind Uwe Essers Bilder
schließlich noch nie gewesen. Schon immer hat der Künstler auf raffinierte Weise Schlupflöcher
in die gegenständliche Welt eingebaut. Seit vergangenem Jahr ergänzt der Künstler die typischen
Farbschlieren und zerlaufenden Geflechte um präzise Rasterstrukturen, sei es in Form von kompakten Bildelementen oder perspektivischen Hilfslinien.
Was aus der Ferne wie die Geste eines Action Painters aussieht, erweist sich von Nahem als genau überlegte Setzung. Bar aller Improvisation und Intuition ist jede einzelne Linie Ergebnis eines langen Denkprozesses.
Uwe Esser bedient sich eines Repertoires an freien und gefundenen Formen aus Zeitschriften,
Büchern und Magazinen, die er in einem komplexen Brechungsprozess zu Ornamenten verfremdet und auf Klarsichtfolien druckt. Bei Bedarf projeziert er die Strukturen mit einem Tageslichtschreiber auf die zu bemalende Leinwand, klebt diese ab und malt sie aus. Sollte eine Form nicht richtig sitzen, bleiben dem Künstler lediglich zehn Minuten, um seine Entscheidung zu revidieren und die Acrylfarbe wieder abzutragen. Danach ist nur noch Übermalen möglich. Die scheinbare Leichtigkeit des Lineaments ist also schwer erarbeitet.
Wie eine Loseblatt-Sammlung aktualisiert Uwe Esser regelmäßig den Musterkatalog mit den Folien. Nur zu gerne würden seine Sammler Einblick nehmen. Bloß wozu? Erstens hat das fertige Bild nichts mehr mit der Vorlage zu tun, und zweitens wäre ein Kunstwerk ohne Geheimnis doch ziemlich reizlos und banal. Aber genau das sind Uwe Essers Bilder nun mal nicht. Nicht zuletzt durch ihre rätselhaften und eigenwilligen Titel wird der Betrachter immer wieder von Neuem mit unerwarteten Themen konfrontiert.
In Uwe Essers vorheriger Ausstellung in der Villa Goecke deutete sich beispielsweise eine Vorliebe des Künstlers für naturwissenschaftliche Forschungen und TV-Serien wie Star Trek, M*A*S*H, Happy Tree Friends und Xenia an. Nur selten übernimmt er eins zu eins Episodentitel für seine Bilder. Leichte Verfremdungen zeugen bei Uwe Esser von anarchischer Lust an subtiler Dekonstruktion.
Eine Finte dieser Art legte der Regisseur Quentin Tarantino, der seinem jüngsten Film
den aufgrund der Orthografie irritierenden Titel „Inglourious Basterds“ verpasste.
Neben Uwe Essers Faible für Popkultur zeigt sich in der Ausstellung „Black Irish“ eine Hinwendung zu literarischen Sujets und den Gedichten des britischen Lyrikers und Malers William Blake. Es sind düstere Texte, die vom Kampf des leidenschaftlichen Individuums gegen eine von der Vernunft bestimmte Welt erzählen. Liebe, Fröhlichkeit und Hoffnung werden häufig durc Zorn, Hass, Tod und Zerstörung verdrängt. Uwe Essers Bilder „The Echoing Green“, „The Sick Rose“, „A Little Boy Lost“ und „The Poison Tree“ zählen zu den düstersten in seinem Werk überhaupt. Vielleicht weil für den Betrachter kein Zweifel an der dargestellten Grausamkeit bestehen kann. Auf tiefschwarzem Grund stehen giftgrüne und himmelblaue Formen von Knochen, Galgen, Blasen und geschundenen Körpern. Schlingen in leuchtendem Rot, Grün und Orangefarben legen sich wie weitmaschige Netze oder Strickleitern über die gewalttätigen Szenen, die hier angedeutet werden. Ein so hoher Grad an Gegenständlichkeit wie im „Blake“-Quartett ist bei Uwe Esser bislang ungewöhnlich. Und doch handelt es sich nicht um Illustrationen, sondern um starke visuelle Impulse. Der Betrachter mag sich an William Blakes berühmtestes Zitat halten: „Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, erschiene den Menschen alles, wie es ist: unendlich.“
Nur noch ein ferner Anklang verbindet Bilder wie „Lass reiten“ und „Der vortreffliche Mantel“
mit gleichnamigen Gedichten der deutschen Romantik. Wo diese unverstellt Vergänglichkeit,
Krankheit, Enttäuschung und Tod verhandeln, geht Uwe Essers Kunst weit über die greifbare
Realität hinaus und findet kraftvollen Ausdruck in Farbe und Form.
Wie verblüffend nahe sich Literatur und Malerei zuweilen kommen, deutet ein kurzer Exkurs
zum Roman „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace an. Dass die deutsche Übersetzung
drei Wochen vor der Vernissage erschienen ist, mag den aktuellen Vergleich befördern. Doch trotz der Unterschiedlichkeit der Gattungen sind grundsätzliche Parallelen offensichtlich.
Gerühmt wird das epochale Werk von Wallace weniger der vielschichtigen Handlung wegen als
vielmehr seiner hochartifiziellen Konstruktion und Polyphonie. In der Diversität der Sprache
spiegelt sich das Chaos moderner Existenzmodelle. Zugleich verbindet der Autor Wissenschaft,
Politik, Sport, Suchtformen und private Mythen zu einem Panorama nordamerikanischer Lebenswirklichkeit.
Bei dem Alteuropäer Uwe Esser sind dies vor allem Philosophie, Popkultur, Geschichte
und Kunstgeschichte. Statt mit Wörtern arbeitet der bildende Künstler mit Farbmitteln,
aus denen er Flächen, Ornamente und Linien formt. Für den Roman wie für die Kunst sind
Schichtungen, Bewegungen und Spiegelungen wesentlich.
Möglicherweise bedurfte es erst des Sprungs über den Großen Teich, um die Grenzen der Leinwand zu überschreiten und Möglichkeiten räumlicher Erweiterung auszuloten. Jedenfalls bespielte Uwe Esser mit der Arbeit „Xerxes Party“ 2005 die gesamte Ausstellungsfläche der New Yorker Lab Gallery. Biomorphe Formen in Kombination mit spiralartigen Gebilden, Schlingen und Buchstaben erstreckten sich, mit Acrylfarben gemalt und aus gemusterten Teppichböden geschnitten, über die Wände. Zuweilen lappten die Formen auf den Boden und über die Decke der Galerie. Im Kunstverein Grafschaft Bentheim verwendete der Künstler 2008 erstmals Spiegelfolie, womit er einen Mauerwerkspfeiler in der Raummitte umspannte. Der Effekt war beinahe anamorphotisch, denn die gewellte Form der Folie bewirkte eine verzerrte Spiegelung der Malerei der umliegenden Wandflächen.
In der Kunstgeschichte hat die Technik der Anamorphose seit dem Mittelalter Tradition. Damit
bezeichnet werden Bilder oder Skulpturen, die nur von einem bestimmten Blickwinkel oder
mit Hilfe von Spiegeln in ihrer Ganzheit zu erkennen sind. Darstellungen im Deckenbereich
von Kirchen sind so gestreckt, dass sie einem Betrachter, der auf dem Boden des Gotteshauses
steht, in ihren Proportionen natürlich erscheinen. Für geheime Botschaften auf Bildern eignet
sich eine Darstellung, die ebenfalls nur mit Spiegeln oder von einem einzigen Standort aus zu
entschlüsseln ist.
An einer gegenständlichen oder symbolischen Dekodierung ist es Uwe Esser aber nicht gelegen.
Dennoch stellt er die visuelle Wahrnehmung des Betrachters gekonnt in Frage. Raum- und Tiefenwirkung sind zentrale Aspekte seiner künstlerischen Überlegungen. Für das Projekt „Spirito del Lago“ auf der Isola Bella im Lago Maggiore wählte der Künstler ebenfalls reflektierendes Material. Einen Teil des Treppenhauses im Hotel und Ristorante Elvezia verhüllte er mit Spiegelfolie, worauf die schwarzen Schlingformen reflektierten, die Uwe Esser auf die freie Wandfläche malte. Der Windung der Treppe zufolge war eine Gesamtansicht der Arbeit nicht möglich. Der Betrachter musste daher den Standort wechseln, um alles zu sehen.
Dem gleichen Prinzip folgt die für die Villa Goecke entwickelte Großinstallation „Black Irish“.
Über Eck sind jeweils zehn quadratische und rechteckige Eichenrahmen klappsymmetrisch montiert, wovon je fünf ineinander passen. Die eine Hälfte umfasst Spiegel, die andere fein verästelte Malerei auf rotem Grund. Jedes Bild hat ein spiegelndes Pendant und jeder Spiegel hat ein gemaltes Gegenüber, wodurch sie wiederum selbst zu Bildern werden. Was der Betrachter tatsächlich sieht, bestimmt er durch eine Bewegung im Raum.
Die beiden Galeriewände der Installation sind mit einem abstrakten, entfernt an florale Muster
erinnernden Ornament bemalt. Zudem ist an der gegenüberliegenden Raumseite ist in Augenhöhe
ein konkaver Spiegel mit dem Maßen 40 x 40 cm platziert, der Effekte wie in einem Spiegelkabinett bewirkt. Je nach Distanz erscheint die ganze Installation in einem Bild oder erzeugt Anamorphosen einzelner Elemente. Die optischen Doppelungen erfahren bei Sonnenschein durch den Schattenwurf der beiden gegenüberliegenden Fenster eine zufällige, doch nicht minder anregende Ergänzung. Des Weiteren führen die Struktur des Parketts und die geometrische Bemalung der Decke das symmetrische Spiel fort.
Der Titel der Installation „Black Irish“ geht auf eine Figur aus dem Kriminalfilm „Die Lady von
Shanghai“ von Orson Welles zurück. Die letzte Szene des kinematografischen Vexierrätsels spielt bezeichnenderweise in einem Spiegelkabinett. Verwirrt durch die vielen Verzerrungen, Doppelungen und Vortäuschungen verliert die Hauptfigur O´Hara ihre Orientierung. Bei Uwe Esser dienen Spiegel hingegen als Wahrnehmungshilfe und gewiss auch ein wenig der Unterhaltung.
In der Kunstgeschichte finden sich für die Verwendung von Spiegeln sowohl positive als auch
negative Beispiele. Erwähnt seien etwa deren Bedeutung einerseits als mariologische Symbole von Reinheit und Makellosigkeit und andererseits von Luxus, Vanitas und Melancholie. Zur Zeit der Entstehung von Tizians Gemälde „Die Toilette der Venus“ (1555) waren Spiegel vor allem als Accessoires von Damen gebräuchlich. Drei Jahrhunderte später besitzen sie eine ganz andere
Rolle. In Werken wie Édouard Manets „Bar aux Folies-Bergére“ fragmentiert der Spiegel den
Blick des Betrachters und ermöglicht ungewöhnliche Perspektiven. Er wird zum Instrument
künstlerischer Wahrnehmungsreflexion. Ein prominentes Beispiel aus der jüngeren Zeit ist die
Gestaltung des kanadischen Biennale-Pavillons 2007 durch David Altmejd. Dessen Installation
„The Index“ glich einem Spiegellabyrinth, das von Vogelwesen und Werwölfen bevölkert wurde.
Bei aller Komplexität ist Uwe Esser tiefenpsychologisches Brimborium fremd. Sein Denken zielt
auf Perzeption, auf die intellektuelle und sinnliche Eroberung des Raumes.
Markus Weckesser